Proudly made on earth

10.000 Bilder

Der elfte November war ein Freitag und ich hatte eigentlich ganz andere Dinge vor. Trotzem holte ich die Kamera raus und stürzte mich in die Menschenmassen auf dem Alexanderplatz, gerade als sich die blaue Stunde wie ein Schleier über die Stadt senkte. Flickr rief zur Aktion 11|11|11 auf und es gibt bekanntlich sowieso nie genug Gründe, um vor die Tür zu gehen und Fotos zu machen. Ich mag synchronisierte Ereignisse. Dieser Aspekt ist vermutlich das Beste an Silvester und er machte auch aus diesem Abend im Herbst etwas Besonderes. Es war ein Abend in einem Jahr, in dem ich fortging, um Träume zu verwirklichen. Ein Abend in einer meiner ersten Wochen in einer neuen Stadt.

Mir gefällt das Bild, das entstanden ist, als ich unter der Weltzeituhr stand und den Blick gen Himmel richtete. In erster Linie fällt wahrscheinlich seine Ästhetik auf. Tatsächlich habe ich einige Anpassungen in Photoshop vorgenommen, obwohl ich mich in der letzten Zeit immer weniger um Nachbearbeitung kümmere. Die Vögel flogen auch im Original so schön, dass ich keinen davon retuschieren oder einfügen musste, doch ich habe die Perspektive nachträglich ein wenig verändert. Jeder, der ab und zu eine Kamera in die Hand nimmt, kennt die Drittelregel. Dieses Rezept zur Verbesserung der Komposition mit geringsten Mitteln ist mittlerweile so überstrapaziert, dass ich mich zunehmend für Symmetrie begeistere. Also habe ich die Stahlstreben so platziert, dass sie auf den ersten Blick regelmäßig wirken und die Anomalie erst bei näherem Hinsehen auffällt. Dazu trägt auch die Position der Planeten bei, die nebenbei stärker Aufschluss über den Ort der Aufnahme geben und einen interessanten Kontrast zum Himmel geben. Ebender hatte zu dem Zeitpunkt wirklich genau diese Farbe. Mich stören am bei ISO 1600 obligatorischen Rauschen nur die Farbfehler, ansonsten habe ich den Eindruck, dass es zusammen mit der leichten Vignettierung die Bildwirkunng sanft unterstreicht.

Nicht nur Vogelschwärme waren unterwegs, auch ich bin 2011 viele alte Wege weitergegangen und habe neue eingeschlagen. Zum Beispiel den Pfad zur absoluten literarischen Erleuchtung durch absolut ernsten Pathos. Ich nannte das Foto “Migration Time”. Auf so vielen Wegen stehe ich noch fast am Anfang und kann habe den Startpunkt oft noch besser im Auge als das Ziel. Das kann entmutigend sein, aber auch Neugierde auf das Unbekannte wecken. Ich bin sehr neugierig.

»Deine ersten 10.000 Bilder sind deine Schlechtesten,« zitiert Martin Gommel frei nach Helmut Newton in seinem Aufruf “Mut zur Mittelmäßigkeit”. Beim letzten Zählen befanden sich gute 4.000 Fotos in meinem Archiv, die alle von meiner geliebten 450D [Affiliate-Link] stammen und die ich alle noch nicht wirklich ernstnehmen kann. Aber ernster als das, was ich davor produziert habe. Ich bin erst seit drei Jahren fest entschlossen unterwegs, und die Reise ist lang. Martin Wolf wiederum fragt jedem Leser nach dem persönlich als bestes befundenen Foto des Jahres, was mich zu diesem Artikel und dem Posten dieses Bildes veranlasst hat. Ich habe keine Angst mehr davor, in der Mittelmäßigkeit unterzugehen. Ich mache mir keinen Druck. Ich brauche Zeit, zu lernen.

Früher spielte sich die Zeitrechnung in Epochen ab. Es gab Moden, Trends, Bewegungen. Ein Stil hatte eine Halbwertszeit, er wurde exponentiell bis zu seiner Omnipräsenz immer beliebter, bevor er langsam verglühte und vergessen wurde. Heute spielt sich die Zeitrechnung in der Messung von Bandbreiten ab. Wie viele Fotos und Videos pro Sekunde gepostet werden, wie viele verschiedene Songs gehört, wie viele Tweets abgesetzt. Kein Stil ist mehr allgegenwärtig. Stattdessen werden wir tagtäglich mit einer unbewältigbaren Masse an Individualität konfrontiert. Es gibt so viele Herangehensweisen an ein Foto, wie es Möglichkeiten gibt, ein einzelnes Leben zu führen.

Warum werden nach Vollendung des zwanzigsten Jahrhunderts Dekaden nicht mehr als Schlagworte für einen bestimmten Zeitgeist funktionieren? Warum benutzt fast niemand den Begriff “Nullerjahre”, und wenn, nur zur Beschreibung einer Zeitspanne der Orientierungslosigkeit? Weil es nur noch ein davor gibt. Und ein danach. Wir sind der Nullpunkt.

Florian Lehmuth
8. Januar 2012
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