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CD-Review: An Awesome Wave (Alt-J)

Alt-J Cambridge

© Phil Sharp

Am Anfang stand die Frage nach dem vorläufig besten Album des Jahres. Dass 2012 nämlich schon halb vorbei ist, lässt sich mit Blick auf die bisherigen Veröffentlichungen fast nicht glauben. Während wir in der letzten Ausgabe von Hundert Hoch Drei noch beobachten konnte, wie alte Größen wie Radiohead oder die Black Keys neue Wege einschlugen und neue Talente wie James Blake und tUnE-yArDs frische Akzente setzten, steckt der Musikbetrieb in diesem Jahr ganz offensichtlich in einer Krise. Fast wirkt es so, als habe der relativierende Effekt des digitalen Zeitalters etwas verspätet mit aller Kraft zugschlagen. Bands wie Beach House oder Sigur Rós, deren frühere Werke wir noch heute zelebrieren, können mit ihrem neuen Material nicht an ihre vorangegangenen Erfolge anknüpfen. Es fehlt eine unverbrauchte Zukunftsperspektive.

Die Suche nach dem bislang besten Album des Jahres ist dann auch ganz schnell beendet. Nico spricht schon seit Wochen nur noch von Alt-J, die auch von Lukas sehr hoch gehalten werden. “An Awesome Wave” nennt sich ihr Debütwerk und es besitzt genau die Qualitäten, die wir in einer solch orientierungslosen Periode erwarten können. Die Beschreibung des eklektischen Sounds der Band muss bei ihrem Namen beginnen: Der ist nämlich eigentlich nur eine Umschreibung für , also das Symbol, das unter Macintosh durch simultanen Druck auf die Alt- und die J-Taste erzeugt werden kann. »Triangels are my favourite shape,« bekennt Leadsänger Joe Newman dann auch gleich in “Tessellate” und wir ahnen schon: Es wird hip.

Alt-J sind die logische Konsequenz unserer Zeit. Was soll man über eine Band sagen, die in ihrem Eröffnungstrack “Intro” nach eigener Aussage erst einmal dem gesamten kulturellen Kanon, der bislang geschaffend wurde und sie inspiriert hat, mit solidem Post-Rock irgendwo zwischen Mogwai und Explosions In The Sky Tribut zollt? Die direkt im Anschluss in einem zweistimmigen Choral vom Yin und Yang des Lebens predigt: »Like all good fruit, the balance of life is in the ripe and the ruin.« Die fortan ganz selbstverständlich Anspielungen auf American Psycho, Where The Wild Things Are oder Gerda Taro macht? Man möchte diese Vielseitigkeit vielleicht mit dem Schicksal dieser Generation abtun: Das passiert eben, wenn die Kids zwischen elektrischer Gitarre, Synthesizer und Tauschbörse aufwachsen. Und dennoch ist dieser unglaublich mühelose Wechsel zwischen den unterschiedlichsten Genres nichts anderes als atemberaubend.

Am deutlichsten wird die Vielfalt, wenn man Anfang und Ende der Songs vergleicht und feststellt: Oftmals schließt das Quartett seine Lieder grundlegend anders, als es sie begonnen hat. Wie wir es schon von anderen Meistern musikalischen Spannungsaufbaus kennen, werden die einzelnen Klangebenen Schritt für Schritt aufgeschichtet und verlagern den Höhepunkt eines Stücks ganz an sein Ende. Völlig neu sind jedoch die radikalen Brüche, die sich gnadenlos durch Songs und teilweise sogar Themen ziehen. Man merkt, dass die Band traditionell aus der Ecke der Gitarrenmusik kommt, aber gleichzeitig unaufhaltsam in Richtung Elektronika gezogen wird. Begleitet wird diese Wanderung mit Kinderchören, mehrstimmige Gesangseinlagen, Gitarrensoli und Klavierpassagen. Auf der anderen Seite sind auch Abstecher in Richtung Folk bedenkenlos im Repertoire enthalten, wie sich eindrucksvoll bei “Hand-Made” zeigt, das genauso gut vom Tallest Man On Earth hätte dargeboten werden können.

Meine heimlichen Lieblinge heißen “Dissolve Me” und “Taro”. Das erste Stück trifft bei mir mit seinen epischen Synthies und den knarzenden Bässen auf eine sehr empfängliche Seite. Hinter der glänzenden Fassade steckt allerdings eine rührende Gutenachtgeschichte, die von Schafherden, Strandspaziergängen und Meeresrauschen handelt. Letzterer Song ist eine Hommage an die eingangs erwähnte Gerda Taro, Kriegsreporterin und Lebensgefährtin Robert Capas. Der Text handelt von den letzten Momenten Capas, der durch eine Landmine brutal aus dem Leben gerissen wird und sich gleichzeitig gewiss sein kann, schon sehr bald wieder mit seiner Geliebten, der bereits verstorbenen Taro, vereint zu sein. Die Geschichte wird mit einem fernöstlich klingenden Thema umgesetzt, das jedoch plötzlich ganz unvermittelt von einem lauten Zwischenruf zerschnitten wird, der einmal mehr die Wandlungsfähigkeit der Gruppe illustriert. »Hey Taro!«

Nachdem sich das Album tief in mein akustisches Gedächtnis eingebrannt hatte, suchte ich entschlossen nach einer Möglichkeit, diesen Teufelsbraten einer Band auch einmal live bestaunen zu dürfen. Und stellte fest, dass ich dafür nicht einmal Geld ausgeben musste: In die ellenlange Liste namens “Kostenlos Spaß haben in Berlin” hat sich nämlich – von mir ganz unbemerkt – ein weiterer Punkt dazugesellt: Introducing, eine Veranstaltung des Intro-Magazins, bei dem hierzulande aufstrebende Künstler einem größeren Publikum nähergebracht werden sollen. Vor zwei Wochen luden die Macher in den Festsaal Kreuzberg, wo ich neben Alt-J auch noch die mir vorher nicht bekannten Zulu Winter und Clock Opera erleben durfte. Nebenbei wurde die Veranstaltung von Arte aufgezeichnet und öffentlich verfügbar gemacht. Was wünscht man mehr?

Auf der Bühne zeigt sich dann, dass die Gruppe stellenweise noch recht steif daherkommt. Sie hält sich strikt an die Tracklist des Albums und gibt die Songs praktisch genau so wieder, wie sie im Studio aufgenommen wurden. Aber das geht in Ordnung. Denn man sieht auch: Gerade Publikumshighlights wie “Breezeblocks” und “Fitzpleasure” sind sehr gut tanzbar. Und ansonsten nehmen uns Alt-J mit ihrem unbändigem Experimentiertrieb, ihrer Spielfreude und ihrer Unkonventionalität nicht selten den Atem.

“An Awesome Wave” ist schon seit einigen Wochen käuflich erwerbbar, lässt sich aber auch ganz legal auf Soundcloud erst einmal probehören. Ich schließe mit der Erkenntnis, dass 2012 vielleicht doch gar kein so schlechtes Musikjahr werden könnte. Die vereinzelten Höhepunkte sind dann eben umso größer.

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Florian Lehmuth
8. Juli 2012
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