Proudly made on earth

Wir dürfen Europa nicht verlieren

Athens Acropolis

Beobachter hatten schon im Vorfeld den 17. Juni zum geschichtsträchtigsten Tag dieses Jahres erklärt. Doch das Ergebnis der Neuwahlen in Griechenland fiel bei weitem nicht so eindeutig aus wie erwartet. Letztendlich kam es zur Koalition unter Antonis Samaris von der konservativen Nea Dimokratia, die sich den Verbleib in der Eurozone zum Ziel gesetzt hat. Doch auch das radikale, anti-europäische Linksbündnis konnte seinen Anteil im Vergleich zur Vorwahl deutlich vergrößern. Ein Land ist gespalten zwischen der Aussicht auf einen strikten Sparzwang und dem Austritt aus der Währungsunion als einzige Alternative. Ein anderes Land stürzt sich unter der Leitung seiner Kanzlerin und dem Diktat der Boulevardpresse in Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude.

Der symbolträchtigste Tag in der Geschichte dieses Jahres ist vielleicht der heutige. Seit nunmehr zwei Wochen wird die Europameisterschaft nicht nur in Polen und der Ukraine, sondern über dem ganzen Kontinent ausgetragen. Die Nationalflaggen-, National-Schminke- und National-Seitenspiegelfahnen-Industrie erlebt planmäßig ihren Aufschwung; die Abendluft ist erfüllt von Fangesängen, Autohupen und Feuerwerken. Der Zufall will, dass im Viertelfinale nun ausgerechnet Griechenland und Deutschland aufeinandertreffen. Man kann dieses sportliche Ereignis unmöglich vom europäischen Zeitgeist und den jüngsten politischen Geschehnissen in Griechenland trennen.

Es gibt keinen Kuschel-Patriotismus. Es gibt keine Möglichkeit, “Wir” zu sagen, ohne das abfällige “Ihr” nicht zumindest geistig dazuzureihen. Schon nach der WM 2006 musste das Institut für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld eine signifikante Korrelation zwischen Nationalstolz und “Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit” feststellen. Jegliche Rede von einem harmlosen Patriotismus sei demnach »gefährlicher Unsinn«. Wie schon länger im anhaltenden, unterschwelligen Rechtsruck unserer Gesellschaft zu beobachten, wird das Thema entweder totgeschwiegen oder als “längst überfälliges Nationalgefühl” salonfähig gemacht. Wer Kritik anbringt, wird als Spielverderber bezeichnet und muss sich von der Welt auch noch typisch humorloser Deutscher nennen lassen, denn: »Humor steht rechts«.

Die Situation hat sich in der Zwischenzeit nicht verbessert. Wenn Rechtsradikale ganz offensichtlich deutsche Fanblocks unterwandern, sehen die Berichterstatter bereitwillig weg. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit richtet sich sowieso auf den Status der bemitleidenswerten ukrainischen Hunde und Katzen. Dass jedoch Deutsche offenbar nicht verreisen können, ohne ihren moralischen Imperativ mitzubringen, scheint niemanden zu stören. Nebeinbei verirren sich dann eben auch Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus nur allzu oft ins Handgepäck. Man kann sich die Tweets während der Partie Israel gegen Deutschland nicht ansehen, ohne in absolute Fassungslosigkeit zu versinken und das Gute im Menschen anzuzweifeln.

»Gerade Deutschland hat ja aufgrund der Geschichte Probleme damit deutsche Flagge zu zeigen, aber seit der WM im eigenen Land ist es so geworden, dass alle darauf stolz sind, Deutsche zu sein,« bemerkt ein Fan ganz ohne Scham. Dieser neu aufgeflammte Nationalismus ist ernstgemeint. Doch wir können ihn uns nicht erlauben. »Eure Tickets haben wir bezahlt,« tönt es während des Griechenland-Spiels aus der deutschen Fankurve. Darüber wollt ihr wirklich lachen?

Gibt es ein Vorgefühl des Verderbens? Eine Ahnung am Abgrund? Werden unsere Nachfahren eines Tages auf das Jahr 2012 blicken und sich fragen, warum wir Heutigen den Kataklysmos nicht gesehen haben. Warum wir ihn nicht abgewendet haben? Europa ist Weimar. Die Deutschen haben Weimar zusammenbrechen lassen, und die Folgen waren furchtbar. Wenn Europa zusammenbricht, werden die Folgen nicht weniger furchtbar sein.

Jakob Augstein

Es brodelt in Europa. Ein Parlament nach dem anderen öffnet der radikalen Rechten Tür und Tor. Am gefährlichsten aber sind die xenophoben Aufrührer à la Thilo “man wird ja wohl noch sagen dürfen” Sarrazin, die mit ihren hetzerischen Ideen bis in die Mitte der Gesellschaft vordringen. Der europäische Zusammenhalt bröckelt. Immer mehr Länder wenden sich ab und wagen den nationalen Alleingang.

Als ich geboren wurde, gab es kein geteiltes Europa mehr. Der Vertrag von Maastricht war bereits unterzeichnet. Ich verstehe den Sinn einer einzelnen nationalen Identität nicht mehr, mein einziger Bezugsrahmen ist eine europäische Einheit. Meine Generation empfindet es als selbstverständlich, auf dem ganzen Kontinent frei zu reisen, zu leben und zu arbeiten.

Europa ist auch die einzige Zukunftsperspektive, die uns noch bleibt. Die weiter andauernde Finanzkrise lässt sich nicht auf Staatsebene bewältigen. Im globalen Wettkampf kann Europa nur als einheitlicher Wirtschaftsraum mithalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass Deutschland als Exportnation von dieser Wirtschaftsunion auch mit am meisten profitiert. Ja zu Eurobonds und Bankenunion statt Fiskalpakt und Sparzwang; Ja zur Transferunion statt Nord-Süd-Gefälle und Jugendarbeitslosigkeit!

Ich kann verstehen, wenn der Rest der Welt schockiert auf eine stoische Merkel blickt und von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg spricht. Hier geht es nicht um das durch und durch falsche Bild der fleißigen Deutschen, die die Renten der faulen Griechen finanzieren. Wir können uns die tragischen Ausmaße eines Zusammenbruchs des geeinten Europas nicht ausmalen. Und dennoch fehlt gerade von der politischen Linken eine klare, langfristige Vision eines europäischen Bundesstaates. Wir werden an diesem Ziel nicht vorbeikommen.

»Was von Deutschland und von allen anderen 16 Euro-Ländern verlangt wird, ist nicht die Vergemeinschaftung von Schulden selbst. Es ist die Vergemeinschaftung unabsehbarer Risiken,« schreibt Wolfgang Münchau in einer sehr erhellenden Kolumne auf Spiegel Online. Und auch: »Deutschland wäre bei einem Euro-Zusammenbruch der Hauptleidtragende. […] Das könnte zu Verlusten von locker einer Billion Euro führen.« Konjunkturprogramme wären dann das kleinste Problem.

Florian Lehmuth
22. Juni 2012
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