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Der Feedreader nach Google

Network Cable Unplugged

CC-BY-NC-SA: Nigel Marshall. Farbe: Eigenanfertigung

Die Meldung, dass Google Reader zum 1. Juli diesen Jahres eingestellt wird, ist nun fast eine Woche alt. Der darauf folgende Sturm der Entrüstung schlug höhere Wellen, als ich vermutet hatte und sorgte nicht nur für unzählige wütende Blogposts, sondern auch für den ersten Platz unter Twitters Trending Topics und eine Petition mit immerhin 35.000 Unterstützern. Mancher mag gehofft haben, der Aufschrei könnte Google dazu bringen, den Dienst doch am Leben zu lassen oder zumindest wie damals bei Wave den Quellcode freizugeben. Die Anstrengungen waren offenbar vergebens, die Chancen auf einen Sinneswandel der Kalifornier sind zu diesem Zeitpunkt gering.

Das ist deshalb besonders schade, weil Google damit zeigt, dass gerade die Gruppe der Poweruser und Early Adopter keine große Rolle mehr für sie spielt. Das Unternehmen hat diejenigen vergrämt, die solange wie niemand sonst das Internet bevölkern und über seine Weiterentwicklung entscheiden. Zwar könnte es durchaus sein, dass genau diese Personen irgendwann sogar froh sein werden, dass Google sich aus dem RSS-Geschäft zurückgezogen hat – wenn das Unternehmen zukünftig konkurrenzlos über unsere Betriebssysteme, intelligenten Kleidungsstücke oder gar den Straßenverkehr entscheidet. Doch bis es soweit kommt, lohnt es sich, ein paar Gedanken über Zentralität und offene Standards im sozialen Netz anzustellen.

RSS wird selbstverständlich nicht aussterben, nur weil sich ein großer Anbieter aus dem Geschäft zurückzieht. Aber auch wenn ich nur zu gerne vor dem gefährlichen Einfluss amerikanischer Monopolisten warne, muss ich zugeben, dass gerade im Falle des Readers die Macht Googles ausgesprochen positive Folgen hat. Das beginnt schon damit, das Angebot selbst durchgängig online zu halten, während einzelne Blogs bei zu großem Ansturm regelmäßig in die Knie gezwungen werden. Selbst die Seiten alternativer Feedreader wahren einige Zeit offline, als sich im Anschluss auf die Hiobsbotschaft Massen verstörter Reader-Nutzer gesammelt nach einem neuen Zuhause umsahen.

Google ist praktisch niemals offline. Das betrifft auch einen Aspekt, den man als verwöhnter westlicher Internetnutzer gerne übersieht, nämlich die Verfügbarkeit in autoritären Regimes. Quartz berichtet, dass Google Reader insbesondere im Iran ein essenzielles Werkzeug ist, um gesperrte Seiten über RSS zu abonnieren. Den Zugang zu Reader zu sperren würde bedeuten, auch die Suchmaschine abzuschalten. Andere Anbieter, die sich auf den Feedreader beschränken, können der Zensur sehr viel schneller zum Opfer fallen.

Der Dienst von Google geht sogar noch einen Schritt über bloße Feeds hinaus. In der Regel sind diese nämlich auf ein paar Dutzend Einträge beschränkt, ältere Artikel werden automatisch durch die neuesten verdrängt. Reader umgeht diese Beschränkung, indem ganz einfach alle Inhalte auf den Google-Servern gespeichert werden, auch wenn sie über den RSS-Feed nicht mehr abrufbar sind. Für die Recherche ist das ein enorm nützliches Hilfsmittel. Man muss nicht einmal mehr wissen, von welcher Quelle die gesuchte Information stammt, sondern nur, dass man sie abonniert hat. In Verbindung mit Markierungen, Ordnern und Suchparametern kommt man dadurch viel schneller ans Ziel als durch eine reguläre Websuche.

Die gebündelte Kraft des Readers hat des Weiteren den Vorteil, dass Google mit seinem reichen Vorrat an Arbeitskräften dafür sorgen kann, dass der Dienst auf möglichst vielen Plattformen reibungslos funktioniert. Reeder wird wohl immer auf Apple-Geräte beschränkt sein; für Android gab es keinen zuverlässigen Feedreader, bevor Google seine eigene App bereitstellte. Darüber hinaus dient Reader über die API als App Engine für zahlreiche andere Anwendungen.

In den letzten Jahren wurden immer wieder Abgesänge auf RSS verfasst, angeblich werde der Standard durch die Verbreitung von Twitter und Facebook überflüssig. Andererseits soll auch die E-Mail schon lange totgesagt sein. Der Kerngedanke hinter solchen Prophezeiungen scheint zu sein, dass alte Technologien verschwinden, wenn neue populär werden. Die Geschichte hat aber bewiesen, dass das nicht der Fall ist. Man kann in diesem, dem einundzwanzigsten Jahrhundert, noch immer den Teletext von allen großen Fernsehsendern abrufen und die Nutzung ist nicht etwa rückläufig, sie nimmt sogar zu. Natürlich ist es für Futuristen uninteressant, sich mit Technologien zu beschäftigen, die ihr Potential größtenteils ausgereizt haben und nicht viel Spielraum für Veränderungen lassen. Gerade darin zeigt sich aber auch, dass Dienste wie E-Mail oder Feeds ihre Aufgabe so gut erfüllen, dass gar keine Weiterentwicklung notwendig ist und sie in ihrer ganzen Unspektakularität fester Bestandteil unseres Alltags geworden sind.

Die Aufgabe eines Feedreaders ist es, die neuesten Artikel einer Reihe von Websites aufzulisten. Nicht mehr, nicht weniger. Eigentlich sollte man annehmen, dabei ließe sich nicht viel falsch machen, doch die bestehenden Angebote sind wie Netvibes und NewsBlur optisch entweder unansprechend oder wie Feedly und Flipboard zu aufgeladen. Google hat es geschafft, eine Benutzeroberfläche zu gestalten, die in ihrer einfachen Zweckmäßigkeit dennoch elegant und aufgeräumt aussieht. Das Unternehmen hat erkannt, dass ein Feedreader im Grunde nur eine Liste sein muss, durch die man schnell navigieren kann. Das persönliche Magazin mit großformatigen Bildern, die den ganzen Bildschirm einnehmen, mag zwar schick sein, aber für Personen, die täglich hunderte von Artikeln lesen und überfliegen, ist dieses Konzept völlig ungeeignet.

Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis es einen Dienst gibt, der die Voraussetzungen erfüllt. Immer wieder haben verprellte Google-Nutzer erklärt, sie wären durchaus bereit, für einen attraktiven Feedreader zu bezahlen. Das Geschäft mit RSS könnte also zu einer echten Goldgrube werden. Wünschenswert wäre ein Stück Software, das die Vorteile eines zentralen Angebots mit den Grundsätzen der OpenSource-Bewegung kombiniert. Ein Client, der auf dem eigenen Webspace installiert wird und dadurch von überall erreichbar ist, so wie Fever schon jetzt funktioniert.

Die Idee sollte aber noch ausgebaut werden in eine Richtung, die Diaspora schon vorgegeben hat, wenn auch bisher mit geringem Erfolg: Die Software läuft verteilt auf verschiedene Server von Privatpersonen. Wer sich keinen Server leisten kann, bekommt den Zugang von anderen Menschen mit überschüssigen Kapazitäten oder greift auf einen zentralen Anbieter zurück, der sich über Werbung finanziert. Um hinter den Vorteilen eines zentralisierten Angebots nicht zurückzustehen, können die einzelnen Installationen über entsprechende Schnittstellen miteinander kommunizieren.

Ich würde mir einen Feedreader wünschen, in dem ich genau wie bei Google Reader nach Jahre alten Artikeln suchen kann und sie auch finde, wenn nicht auf meinem Server, dann eben auf einem anderen. Ein Werkzeug, dass im besten Fall auch noch dann weiterläuft, wenn mein eigener Server down ist, ansonsten aber von mir selbst angetrieben wird. Ein Angebot, das auch in Form von gut gestalteten Apps für alle Betriebssysteme bereitgestellt wird oder bestenfalls in der Web-Version so gut funktioniert, dass ein einfacher Browser ausreicht. Ein Dienst, der sich niemals abschalten lassen wird, weil niemand die vollständige Kontrolle darüber hat. Und vielleicht würde ja Google selbst eine Instanz dieser Software hosten, um Menschen in unterdrückten Ländern den Blick auf die Welt ein Stück zu öffnen. Genau dazu gibt es Feedreader nämlich: Um die Großartigkeit des Netzes zu zelebrieren, Tag für Tag.

Florian Lehmuth
19. März 2013
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